Am Morgen bin ich früh auf, um Zeit für mich zu haben. Doch bevor der Wecker für Thomas klingelt, krabbel ich noch einmal unter seine Decke, kuschel mich ganz dicht an ihn heran und genieße die Nestwärme, die alles durchdringt. Ganz still genießen wir diesen kostbaren Moment, der wie ein Energie-Segen durch uns hindurchströmt. Bevor wir dann in unser Tagewerk springen, gibt es ein kleines beherztes „Schmuse-Rauf-Ritual“. Wie Welpen, kugeln und schubbeln wir uns umeinander, schnurren, beißen und prusten lauthals vor uns hin. Nach diesem liebevollen Kräftemessen, sind wir wach und lebendig und bereit für einen neuen Tag.
Die Botschaft „Ich bin lebendig“, lässt sich tatsächlich nicht anders transportieren, als über den Körper. So beschreibt es auch Elisa Meyer in ihrem Buch „Berührungshunger“. Daher hat Berührung den Rang eines Lebensmittels. Anfassen, fühlen, tasten, berühren – der sensorische Sinn ist lebenswichtig. Berührung ist weltweit ein menschliches Grundbedürfnis. Dies wird erkennbar durch eine symbolische Umarmung zwischen zwei politischen Repräsentanten, dem jubelnden Menschenknäuel beim Fußball nach einem Torschuss, die tröstende Hand oder die liebevolle Umarmung für einen trauernden Menschen oder ein Kind.
„In der sehr frühen Kindheit sind Körperberührungen sogar elementare Voraussetzung dafür, dass der Säugetierorganismus Mensch überhaupt wächst. Es gibt kein neuronales oder körperlich-zelluläres Wachstum ohne ein adäquates Maß an Körperverformung, sprich Körperberührungen.“ So äußert sich der Professor für Wahrnehmungspsychologie, Martin Grunwald. Auch er hält den Tastsinn für überlebenswichtig. „Berührungen haben für Lebewesen einen Stellenwert, wie die Luft zum Atmen“.
Nonverbale Kommunikation – Berührungen sind schon vor der Geburt lebenswichtig
Grunwalds Versuche im Haptik-Forschungslabor in Leipzig haben gezeigt, das befruchtete Eizellen im Mutterleib bereits in der sechsten Schwangerschaftswoche auf Berührung reagieren und dadurch Wachstum und Entwicklung stimuliert wird. Es wird kein Mensch ohne Tastsinn geboren. Ohne Tastsinn, wäre ein Fötus nicht überlebensfähig. Er stellt die Brücke zwischen dem Innen und Außen dar. Erst kürzlich habe ich in meiner Praxis eine schwangere Frau behandelt. Sie hatte geschwollene Füße durch einen Lymphstau. Ich ließ meine Fingerkuppen, sanft wie Regentropfen, auf die geschwollene Partie ihrer Fußrücken tanzen. In dieser Sekunde öffnete die Mutter ihre Augen weit auf, denn ihr Baby im Bauch machte mit seinen kleinen Fingern dieselben Bewegungen. Sie konnte es deutlich spüren. Ich stoppte die Bewegung und das Baby hörte auch auf. Ich begann erneut, und das Baby lies im selben Rhythmus wieder seine kleinen Finger tanzen. Wir lachten und in diesem Moment entstand eine tiefe nonverbale Herz-zu-Herz-Kommunikation. Das geschah, während ich die weit entfernteste Stelle ihres Körpers, die Füße, berührte.
Die Macht der Berührung
Für Erwachsene spielt die Sensorik ebenso eine zentrale Rolle: rund 900 Millionen Rezeptoren senden in jedem Augenblick Informationen an unser Gehirn. Im Kernspintomographen untersucht Grunwald die durch Berührung ausgelösten biochemischen Vorgänge im Körper und ihre individuelle und soziale Auswirkung. „Die körperliche Entspannung, die Regulation von Emotionen kann man mit Körperberührung sehr gut hinbekommen, und wir haben eine ganze Reihe positiver Immunreaktionen, die nur und ausschließlich durch Köperberührung stimuliert werden. Adäquater Körperkontakt ist Voraussetzung für ein gesundes Leben und für den Zusammenhalt in der sozialen Gemeinschaft“.
Berührungen wurden gesellschaftlich unterschätzt. Die Sinnesforscher haben entdeckt, wie Berührungen unsere Gefühle und unser Denken beeinflussen. Eine Kellnerin, die ihren Gast vor dem Bezahlen flüchtig berührt, kann durchweg mit einem höheren Trinkgeld rechnen. Ein aufmunterndes Schulterklopfen vor einer Prüfung, verringert messbar den Blutdruck und den Stresslevel. Menschen, die sich berühren, kooperieren während eines Spiels besser miteinander. Und Patienten, die vom Arzt berührt werden, empfinden die Zeit, die er ihnen gewidmet hat, länger als es tatsächlich war; sie fühlen sich gesehen und der Heilungsprozess geht rascher voran. Die Haut ist mit zwei Quadratmetern Oberfläche das größte und sensibelste Sinnesorgan. Auf der Stirn wird bereits ein Druckgewicht von 0,075 Milligramm wahrgenommen. Menschen ertasten Unebenheiten im Mikrometerbereich, die mit dem Auge nicht mal wahrgenommen werden. Probiere es aus! Streiche dir selbst einmal so zart und so sanft, wie nur möglich, mit der Fingerkuppe über deine Stirn. Über die Wirkung dieser Berührung, wirst du erstaunt sein.
Der Sinn der Haut
Wenn Menschen einander berühren, beginnt ein faszinierendes Konzert der Sinneseindrücke. Berührungen in Form von ganzheitlichen Massagen, Kuscheln und Umarmungen sind ein wahrer Segen, denn schon bereits nach 9 Sekunden wird der Körper von Glückshormonen durchflutet. Allen voran, gilt das Oxytocin als sogenanntes Bindungs- oder Kuschel-Hormon. Berührung regt die Zellerneuerung und Selbstheilung an. Sie lässt uns lebendig und glücklich sein. Der Glücksrausch beginnt, wenn wir etwas berühren, das warm und flauschig ist. Das kann das weiche Fell eines Hundes oder auch das geliebte Kuscheltier sein oder die warme, zarte Haut eines Menschen. Das ist der Grund, weshalb nach einer Massage die Haut geglättet, die Züge weich und entspannt sind und die Augen aus einer inneren Tiefe heraus leuchten. Unser Tastsinn offenbart uns den Sinn. Erst wenn wir etwas wirklich im Leben berühren, begreifen wir den Sinn.
Achtsame Berührungen liefern Informationen jenseits von Sprache
Jede Berührung sendet eine leise Botschaft. Bewusste, achtsame Berührung liefert Informationen, die die Sprache oft nicht vermitteln kann. Sie kann Geborgenheit und Trost spenden, aufmuntern, beruhigen, verwöhnen, heilen. Dafür muss man nicht professionell massieren können. Es reicht ein Streicheln. Deine Hände sind die Sensoren. Du kannst fühlen, wie ist die Hautbeschaffenheit? Ist die Haut trocken oder an anderer Stelle weicher und wärmer? Mit den Händen können wir Verspannungen aufspüren und ich nehme zu dir als Mensch Kontakt auf. Ich bin keine Maschine, die dich wie Kuchenteig „knetet“, sondern ein Mensch, der dich berührt. Berührungen öffnen, machen unsere Verletzbarkeit sichtbar.
Trauma und Berührungshunger
In einem Kulturkreis, indem körperliche Nähe anderer Menschen, jedoch leicht als unangenehm empfunden wird, ist es nicht für jeden so einfach, Kontakt und Berührung zulassen zu können. Studien zufolge wünschen Deutsche, Briten und Skandinavier zum Beispiel bei Gesprächen mehr Abstand zum Gegenüber als Spanier und Italiener. Wir sind heute über Social Media mehr denn je miteinander vernetzt und verbunden, erleben aber dennoch immer mehr Anonymität, Einsamkeit und Unkontakt. Berührungen mit Hautkontakt haben oft eine sexuelle Konnotation. Inwieweit ist der Wunsch nach Distanz anerzogen? Und wie viel Berührung brauchen wir tatsächlich?
Wir berühren einander deshalb so wenig in unserer Kultur, nicht weil wir faul oder falsch wären, sondern Angst voreinander und uns selbst haben. Es ist der geerbte Stress, den die Gattung Mensch noch in sich trägt. Durch Kriege, Vertreibungen und Missbrauch der Kirche, wurde Angst und Verzweiflung gesät. Nachkriegskinder wurden regelrecht ins Leben „hineingeprügelt“. Wie konnte es sein, dass Schläge mit Teppichklopfer, Kochlöffel und Rohrstock in der Schule und zu Hause völlig üblich waren? Hitler forderte die notwendige „Stählung für das spätere Leben“ von der frühesten Kindheit an. Bindungslosigkeit und Beziehungsunfähigkeit waren die verheerenden Folgen der „Nazi-Pädagogig“ die durch Literatur wie: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, zementiert wurden und bis heute noch Wirkung zeigen.
Schüttel dich glücklich und frei
Wenn irgendein Gefühl von Überforderung, Stress oder Gedanken wie „Ich bin ein Nichts, ich gehöre bestraft“ im Alltag auftaucht, dann können die Tiere ein hilfreiches Vorbild für uns sein. Wenn ein Tier gejagt wird oder ein Trauma erlebt hat, zittert es. Unmittelbar nach dem Ereignis zittert es all das angestaute Adrenalin aus dem Körper ab. Anschließend kehrt es zu seiner Herde zurück und geht in Berührungskontakt. Danach ist das Tier frei, als wäre nichts geschehen. Wenn wir uns schütteln, schütteln wir uns lebendig und entlassen das Trauma aus unseren Zellen. Du kannst dabei Tönen, Gähnen, die Zunge rausstrecken, Grimassen machen und intensiv atmen. Du kannst all das machen, was du dich sonst nicht traust zu tun. Angestaute Energie und Blockaden lösen sich, unser System klärt sich auf sanfte und einfache Weise. Auch wenn es zu Anfang vielleicht anstrengend und ungewohnt sein mag, nach einer Weile macht es so viel Freude, dass du es nicht mehr missen magst. Sei ein mutiger Pionier, eine mutige Pionierin für dein Glücklichsein. 10 Min. am Tag oder wann immer dir danach ist.
Bewusstseinssprung durch sinnliche Freiheit
„Interozeption“ nennen Forscher die Fähigkeit, den Zustand den eigenen Körper wahrzunehmen. Bin ich hungrig? Friere ich? Möchte ich berührt werden? Wir kommen als sinnliche Wesen auf die Welt. Berührung erzeugt Gewahrsein und bringt uns mit der Welt in Kontakt. Kinder sind pure Energie, voller Lebendigkeit und Sinnlichkeit. Sie kommen klar ohne Denken aber sie kommen nicht zurecht, ohne Berührung und Wärme. Sinnlichkeit ist das, was in jedem Moment, auf so vielen Ebenen, gleichzeitig auf uns wartet. Wir lernen jedoch im Kopf zu sein, lernen „richtig“ zu sein und während wir darüber nachdenken, verpassen wir diesen unglaublichen Kosmos aus Sinnlichkeit.
Und alles gehört zu mir. Ich bin Licht und ich bin Schatten. Ich bin Liebe und ich bin Angst. Ich bin Freude und ich bin Traurigkeit. Ich bin Vertrauen und ich bin Zweifel. Ich darf all das sein. Ich kann mich selbst und das Leben umarmen, mit all seinen Wunden, mit all seinen Verletzungen, mit all seiner Liebe und der Kraft, wie ein Schmetterling aus dem Kokon schlüpfen und meine Flügel ausbreiten. Wir sind nicht hier, um perfekt zu sein. Wir sind auch nicht hier, um anderen zu gefallen. Wir sind hier, um Frieden in uns und in die Welt zu bringen. Habe keine Angst vor deiner eigenen Größe, deinem eigenen Licht, deiner eigenen Liebe und Lebendigkeit.
Liebe Petra,
ein sehr berührender Artikel und ein wunderschönes Foto.
vielen Dank und viele Grüße von Gisela
Liebe Petra,
wunderbar wie hier beschrieben ist, was Berührung (aus-)macht. Auch häufig erkennbar wie dramatisch, wenn es fehlt.
Durch meine Arbeit kann ich gerade in der Gerontopsychiatrie dies erkennen und sehen und das stimmt traurig.
Da hat auch Corona natürlich noch viel zu einer Verschärfung des Problems (Berührung und Nähe vermissen) geführt.
Dies schreibt eine fitte, freie, gütige und vor allem aktive und berührungs-aktive und -hungrige ältere Freundin!
Liebe Grüße * Rosi