Selbstregulation und innere Sicherheit: Die Kraft der Polyvagaltheorie – Im Gespräch mit Stefan Weber
Herzlich willkommen bei Vom Leben berührt, deinem Podcast für transformative Körperarbeit. Hier kannst du nicht nur den Podcast hören, sondern auch das vollständige Gespräch mit Stefan Weber nachlesen. In dieser Episode tauchen wir gemeinsam ein in die Welt des autonomen Nervensystems – und in die heilsame Kraft der Selbstregulation. Im Gespräch mit Stefan erkunden wir, was es bedeutet, im eigenen Körper Sicherheit zu erfahren, wie die Polyvagaltheorie dabei Orientierung bieten kann – und warum Co-Regulation, Berührung und ehrliches Mitteilen so bedeutsam sind für unser persönliches wie auch therapeutisches Wirken.
Wir sprechen über Alltagsdissoziation, über Bindungsmuster in Beziehungen, über das Pendeln zwischen Anspannung und Erschöpfung – und darüber, wie wir durch feine Wahrnehmung und bewusste Präsenz immer wieder in Verbindung kommen können: mit uns selbst und mit anderen. Eine Einladung zur Achtsamkeit im Nervensystem – und zu einem liebevolleren Umgang mit uns selbst.
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Hallo lieber Stefan, herzlich willkommen. So schön, dass wir heute zum zweiten Mal miteinander sprechen. Beim ersten Mal haben wir uns eher allgemein über traumasensible Achtsamkeit unterhalten. Heute wollen wir etwas tiefer eintauchen – in das Nervensystem, die Polyvagaltheorie – und auch ganz praktische Beispiele bringen. Es geht darum, warum es so wertvoll ist, sich selbst in der eigenen Physiologie besser kennenzulernen. Denn genau das kann uns dabei helfen, mehr Selbstwirksamkeit zu erfahren, uns weniger ausgeliefert zu fühlen und handlungsfähiger zu werden. Herzlich willkommen, lieber Stefan. Schön, dass du wieder da bist.
Stefan: Ja, hallo Petra. Schön, dass ich nochmal eingeladen wurde. Ich freue mich riesig, wieder bei dir im Podcast zu sein. Ich bin gespannt, wie sich unser Gespräch entwickelt – besonders, wenn wir gemeinsam auf dieses spannende Thema Polyvagaltheorie im Zusammenhang mit Achtsamkeit und Selbstwirksamkeit schauen.
Ventrale Energie: Wenn Mobilisierung und Verbundenheit sich treffen
Petra: Genau, und um direkt einzusteigen: Ich fühle mich gerade ventral aktiviert. Es sind beide Aspekte da – die Lebendigkeit, also die Mobilisation, um hier sprechen zu können. Dafür braucht es sympathische Energie und gleichzeitig ventrale Energie. Diese Kombination ist wunderschön – die erleben wir auch beim Spielen oder Singen.
Die Landkarte des Nervensystems – drei Äste, drei Reaktionen
Petra: Stephen Porges hat das, was wir als Polyvagaltheorie kennen, ganz klar in drei Äste unterteilt: den Sympathikus, den ventralen Vagus und den dorsalen Vagus. Diese Äste sind jeweils aktiv, je nachdem, ob wir uns in Sicherheit befinden, in Gefahr oder in Lebensgefahr. Daraus ergibt sich auch, wie jemand sich fühlt.
Der ventrale Vagus steht für Verbundenheit und Social Engagement. Wenn ich in diesem Zustand bin, bin ich kommunikationsfähig und bereit, gemeinsam nach Lösungen zu suchen – auch im Konfliktfall.
Bin ich dagegen im sympathischen Zustand, bin ich entweder im Kampf- oder Fluchtmodus. Und wenn ich mich in Lebensgefahr erlebe, kann mein Nervensystem in den Shutdown fallen, also in den dorsalen Vagus.
Zwischen Gas und Bremse – der Todstellreflex
Petra: Es gibt noch eine Zwischenstation – den sogenannten Todstellreflex. Der gehört technisch gesehen noch zum Sympathikus, ist aber bereits ein Übergang. Hier bin ich hoch aktiviert, aber gleichzeitig in Erstarrung – als würde ich auf Gas und Bremse gleichzeitig treten. Dieses Phänomen kennen wir aus der Tierwelt: Ein Reh, das vom Scheinwerferlicht getroffen wird, bleibt wie erstarrt stehen.
Stefan: Oder bei Mäusen – eine Freundin von mir lebt auf einer Mühle mit vielen Katzen. Sie hat öfter beobachtet, wie eine Maus plötzlich reglos liegen bleibt, wenn die Katze mit ihr spielt. Die Katze verliert dann das Interesse und geht. Sobald sie weg ist, rennt die Maus plötzlich davon. Eine beeindruckende, lebensrettende Strategie des Nervensystems.
Abschalten, um zu überleben – der Schutz des Shutdowns
Petra: In dieser Erstarrung – also in der dorsalen Aktivierung – hofft das System immer noch zu überleben. Wenn selbst das nicht mehr reicht, kommt es zum totalen Shutdown: Keine Muskelspannung, keine bewusste Reaktion mehr. Im Todstellreflex hingegen ist noch Muskeltonus vorhanden – das System ist aktiviert, aber eingefroren.
Selbst der totale Shutdown ist unfassbar intelligent: Er kann das Überleben sichern. Das Raubtier verliert das Interesse, wenn kein Widerstand mehr da ist. Das Tier braucht danach allerdings eine ganze Weile, bis es wieder zu atmen beginnt, die Augen öffnet, die Herzfrequenz steigt. Es ist wie ein kleiner Tod – eine Vorbereitung auf das Ende. Auch Schmerz wird in diesem Zustand abgeschaltet.
Depression als Reaktion des Nervensystems
Stefan: Viele Menschen kennen solche Zustände vielleicht aus depressiven Phasen. Eine starke Depression ist häufig geprägt von viel dorsaler Energie – alles wirkt gedämpft, wie in Watte gepackt. Gefühle und Sinneseindrücke sind reduziert. Das hat auch eine Funktion: Der Körper schützt sich damit vor zu viel Emotion, zu viel sympathischer Aktivierung.
Petra: Häufig erleben wir, dass nach Phasen extremer Anspannung – also Übererregung – das System plötzlich in die Untererregung abrutscht. Man liegt auf der Couch, kann sich kaum bewegen, die Aktivität ist wie abgeschaltet. Erst durch kleine Impulse kann das System sich wieder regulieren. Idealerweise geschieht das im sogenannten Toleranzfenster, in dem auch Regeneration möglich ist und ventrale Zustände erlebt werden können.
Zwischen Hochspannung und Erschöpfung – das innere Pendel
Petra: Manchmal jedoch pendeln wir zwischen den Extremen – zwischen hohem Stress und totaler Erschöpfung. Es fehlt die Integration, die Selbstregulation.
Stefan: Gerade dann ist es so hilfreich, die Polyvagaltheorie im Blick zu haben: Wo bin ich gerade? Was kann ich tun, um wieder in einen Zustand zu kommen, in dem mein Frontalhirn aktiv ist – wo also wieder bewusste, selbstwirksame Entscheidungen möglich sind? Wenn wir im sympathischen Zustand immer höher steigen, wird unser Körper regelrecht überflutet von Energie – aber wenn kein Ausweg da ist, bremst der dorsale Vagus alles herunter. Dieses Wissen um die Zusammenhänge hilft ungemein, auch im Alltag. Denn genau diese Zustände erleben wir alle.
Therapie beginnt mit Wahrnehmung – nicht mit Worten
Petra: Gerade in der therapeutischen Arbeit ist es essenziell, den Körper und seine Physiologie wahrzunehmen. Wo befindet sich mein Gegenüber gerade? Man kann das oft an Stimme, Körperhaltung, Sprechweise oder Tonfall erkennen. Wenn jemand in einem dissoziierten Zustand ist, also „abgeschaltet“, bringt es nichts, mit Worten zu intervenieren. Erst wenn Sicherheit da ist und der frontale Cortex wieder aktiv wird, kann Veränderung greifen. Solange jemand im Überlebensmodus steckt – in Kampf oder Flucht – oder in Dissoziation, werden therapeutische Angebote nicht ankommen.
Stefan: Im Coachingkontext finde ich das Wissen um die Polyvagaltheorie sehr entlastend. Wir müssen nicht immer genau wissen, was wir tun sollen. Oft reicht es, selbst reguliert zu bleiben – also im ventralen Zustand zu sein. Das Nervensystem des Gegenübers nimmt das wahr und kann sich daran orientieren. Das allein kann schon enorm hilfreich sein.
Petra: Das finde ich total faszinierend – und eine riesige Erleichterung in der Klientenarbeit. Dass ich so viel bewirken kann, indem ich einfach selbst versuche, in einem ventralen Zustand zu bleiben. Denn das sendet Signale von Sicherheit aus – und das allein kann schon unglaublich viel bewirken.
Stefan: Ja.
Petra: Jetzt hatte ich gerade einen wundervollen Gedanken – der ist mir nur leider weggeschlüpft. Vielleicht kommt er wieder vorbei. Es ist einfach schön, mal kurz innezuhalten und sich zu fragen: Wo bin ich gerade?
Alltags-Dissoziation: Wenn wir plötzlich nicht mehr da sind
Petra: Ich beobachte bei mir selbst, dass es gar nicht so selten vorkommt, für einen Moment abzuschalten. Das ist dann wie eine Art Schutzreaktion, damit das System nicht überflutet wird.
Stefan: Das tun wir ja alle im Alltag – diese sogenannte Alltagsdissoziation. Wahrscheinlich kennt das jede Hörerin, jeder Hörer: Man fährt eine bekannte Strecke mit dem Auto, ist gedanklich ganz woanders – und wenn man ankommt, fragt man sich: Wie bin ich eigentlich hierhergekommen? Welchen Weg bin ich gefahren?
Zurück ins Spüren – einfache Wege in den Körper
Petra: Was ich in der Körperarbeit so wertvoll finde, ist, den Kontakt wiederherzustellen – zu mir selbst, zu meiner eigenen Physiologie. Darum geht es: wieder in Verbundenheit zu kommen.
Stefan: Gibt es eigentlich eine Übung, die dir besonders liegt? Eine, die du für dich nutzt, um mit dir selbst wieder in Kontakt zu kommen? Oder nutzt du da mehrere Übungen abwechselnd?
Petra: Für mich ist es total hilfreich, im Hier und Jetzt anzukommen – besonders, wenn ich in einem starken Gedankenstrom bin oder innerlich erregt. Dann öffne ich meine Wahrnehmung bewusst für das Jetzt: Was sehen meine Augen? Ich sehe den blauen Himmel, ich sehe Pflanzen, ich höre Vögel, ich spüre den Wind auf meiner Haut. Ich orientiere mich im Raum – was sehe ich? Dabei entsteht eine gewisse Verlangsamung. Das Denken stoppt für einen Moment – und es wird direkt mehr Kapazität frei. Oder ich spüre meine Füße auf dem Boden. Ich spüre meinen Atem. Wenn ich sitze, meine Sitzbeinhöcker. Manchmal räckel ich mich etwas, stehe auf, hole mir etwas zu trinken – was auch immer. Hauptsache, ich komme wieder in meinen Körper.
Trauma entsteht in Beziehung – und heilt dort auch
Petra: Ich möchte nochmal einen kleinen Sprung machen – zur Frage: Wie entsteht eigentlich Trauma? Und wie hängt das mit Beziehung zusammen? Trauma entsteht in Beziehung – und es heilt auch in Beziehung. Gopal Norbert Klein hat das sehr klar heruntergebrochen: Wenn ich als Kind nicht vollständig ausdrücken und kommunizieren konnte, was gerade in mir ist, entsteht Trauma. Wenn eine Bindungsanfrage nicht beantwortet wurde – nicht einmal, sondern immer wieder –, dann entsteht dieses Gefühl: Ich bin allein, ich bin verlassen. Mein Nervensystem brauchte in dem Moment Zuwendung, aber ich konnte das nicht kommunizieren. Oder: Wenn ich meine Autonomie entfalten wollte, das Leben entdecken, und es wurde nicht zugelassen oder sogar übergangen – dann kann es zu Grenzüberschreitungen kommen. Später überträgt sich das: Ich möchte in Beziehung treten, aber mein altes Bindungsmuster tritt in Kraft – ich wünsche mir Nähe, aber ich verhindere sie gleichzeitig. Denn das war meine damalige Schutzstrategie.
Beziehungsmuster erkennen: Nähe, Rückzug und alte Schutzstrategien
Petra: Für mich war das ein Augenöffner. Statt zu sagen, was ich fühle, was wirklich da ist, reagiere ich aus dem alten Muster heraus: Ich gehe in Angriff oder in Rückzug.
Und häufig begegnen sich dann genau diese Gegensätze: Verschmelzungstypen und Autonomietypen. Eine Mischung, die oft herausfordernd ist. Der Verschmelzungstyp will Nähe, will Zugriff – er kommuniziert viel, möchte den anderen ganz bei sich haben, oft auch kontrollieren. Klassische Sätze wären: „Du musst noch den Müll rausbringen“, „Warum hast du das nicht erledigt?“, „Ich brauche dich jetzt.“
Für einen Autonomietypen ist das schnell zu viel. Das sind Grenzüberschreitungen. Wenn der Verschmelzungstyp es aber schafft, das sein zu lassen – also nicht mehr aus dem Mangel heraus zu fordern – und stattdessen aus seinem erwachsenen Selbst agiert, entsteht Raum. Dann muss der andere auch nicht mehr in die Verteidigung gehen.
Denn die Strategie des Autonomietyps ist ja oft Rückzug: „Komm mir nicht zu nah.“ Lieber in den Keller gehen, zu Freunden flüchten – einfach nicht verfügbar sein.
Die Not hinter dem Verhalten – und der Wunsch nach Verbindung
Stefan: Da muss man erst mal hinkommen. Was mir dazu in den Sinn kommt: Hinter all diesen Verhaltensweisen steckt eine tiefe Not. Gerade beim Verschmelzungstyp ist die Bereitschaft zur Selbstverformung oft extrem hoch – um der Beziehung willen, um die Stimmung zu halten.
Da ist ein riesiger Mangel, der gefüllt werden soll – durch den Partner, die Partnerin. Aber irgendwann kommt man an den Punkt zu erkennen: Diese Leere kann nicht durch den anderen gefüllt werden. Auch nicht durch die größte Nähe oder Verschmelzung.
Das zu erkennen – und dann auch noch entsprechend anders zu handeln –, ist eine große Aufgabe. Keine Kontrolle mehr auszuüben, keine unbewussten Verschmelzungsimpulse zu senden. Das ist ein ordentliches Päckchen, das wir da zu tragen haben. Und es braucht Zeit.
Ehrliches Mitteilen: Drei Sätze, die Verbindung schaffen
Petra: Ich habe auch eine Podcastfolge mit Boris Urlbauer aufgenommen. Da haben wir über das „Ehrliche Mitteilen“ gesprochen – eine wunderbare Möglichkeit, aus der Identifikation herauszukommen und mitzuteilen, was gerade im Moment da ist. Es geht dabei nicht darum, in der Vergangenheit zu graben. Sondern ganz präsent zu sagen, was jetzt ist. Es gibt diese drei Satzanfänge:
– Ich spüre… (körperlich: z. B. Wärme, Kälte, Anspannung, Entspannung)
– Ich fühle… (emotional: z. B. Wut, Trauer, Freude, Dankbarkeit)
– Mein Kopf denkt… (Gedanken ohne Bewertung)
Wenn ich das so formuliere, gibt es keinen Angriff, kein „Du hast…“ oder „Du bist…“. Mein Gegenüber muss sich nicht verteidigen – und ich löse mich gleichzeitig ein Stück weit aus der Identifikation mit dem Gefühl.
Stefan: Ich muss da ein bisschen einhaken. Ich habe mit Boris auch schon ein paar Mal über das ehrliche Mitteilen gesprochen. Und ja – es funktioniert sofort, wenn mein Gegenüber das passende Ohr eingeschaltet hat. Also wirklich verstanden hat, worum es geht: nicht auf das Gesagte zu reagieren, sondern es einfach stehenzulassen. Gerade in Beziehungen kann das allerdings schwierig sein. Ich habe das mal mit einer Freundin ausprobiert – in einer aufgeladenen Situation. Wir dachten: Lass uns das ehrliche Mitteilen ausprobieren. Ich habe gesagt: „Ich fühle Wut. Ich spüre, wie sich mein Hals zusammenzieht, wie viel Energie da ist.“ Und zack – sie war raus. Hat es persönlich genommen. Es hat etwas in ihr getroffen. Obwohl wir beide wussten, worum es eigentlich geht, war ein Appellohr- oder Beziehungsohr aktiv. Es ging tief rein – und anstatt zu deeskalieren, hat es die Situation sogar noch angeheizt.
Wenn Zuhören schwerfällt – und alte Muster anspringen
Petra: Okay, wie spannend. Ja, also dann hat sie sich richtig bedroht gefühlt und konnte gar nicht, war gar nicht in der Lage dazu.
Stefan: Genau. Ich finde deshalb immer wichtig, dass beim Ehrlichen Mitteilen die Rahmenbedingungen ganz klar sind – dass wirklich jede*r weiß, was das bedeutet und was damit gemeint ist. Und vor allem auch: Was mache ich mit dem, was ich da gerade höre? Antwort: Gar nichts.
Petra: Ja, genau. Ich kann berichten, dass ich zum Beispiel in meiner Partnerschaft gar nicht erklärt habe, was das Ehrliche Mitteilen ist. Und trotzdem ist es mir gelungen – also es war natürlich ein Prozess, auch für mich. Allein schon zu differenzieren: Was ist ein Gefühl? Was ist ein Gedanke? Was ist eine Körperempfindung? Das braucht ein hohes Maß an Bewusstsein. Und in zwei Situationen ist es mir gelungen, das zu benennen – so ganz klar. Mein Partner, der eher ein Autonomietyp ist, hat mich dann ganz tief angeschaut und gesagt: „So fühle ich mich auch manchmal.“ Er hat sich so sehr erkannt gefühlt – das war eine riesige Erleichterung für sein Nervensystem. Das hat so viel Verbundenheit geschaffen. Und ich habe das Gefühl, es hat sich wirklich etwas verändert. Unsere Nervensysteme sind entspannter, offener, weicher. Es ist wie eine Positivspirale – ich kann viel eher auf Angriff verzichten, und das merkt er. Und er muss dann auch nicht mehr in die Abwehr gehen. Wir konnten die alte Negativspirale tatsächlich unterbrechen. Das ist so ein Geschenk.
Stefan: Ja, und du bist natürlich auch durch deine TRAGER® Körperarbeit und deine persönliche Entwicklung schon gut geübt. Es gehört ja auch einiges an Übung dazu, überhaupt Körperempfindungen wahrzunehmen. Ich erlebe das bei Klienten – und manchmal auch noch bei mir selbst –, dass es Körperbereiche gibt, zu denen man erst einmal keinen Zugriff hat. Und dann braucht es Übung, Wiederholung. Es ist im Grunde wie beim Klavierspielen: immer wieder die gleiche Bewegung, die gleiche Aufmerksamkeit trainieren.
Petra: Genau. Es ist wie Achtsamkeitspraxis – immer wieder reinspüren: Was fühle ich gerade im Körper? Was fühle ich emotional? Und was denkt mein Kopf?
Ich habe am Wochenende ein Seminar gegeben und wir haben das ehrliche Mitteilen als Vorstellungsrunde genutzt.
Stefan: Oh, wie schön.
Kleine Worte, große Wirkung – und was Berührung damit zu tun hat
Petra: Ja, das war für viele erst mal eine Herausforderung. Aber es hat ganz viel Verbundenheit geschaffen – gleich zu Beginn. Und wir haben diese Struktur dann auch auf die Feedback-Kultur übertragen. Ich unterrichte ja Körperarbeit, und das war ein TRAGER® Seminar. Die Art, wie Feedback gegeben wurde, war dadurch viel klarer.
Wenn ich sage: „Ich spüre …“, „Ich fühle …“ und „Mein Kopf denkt …“, dann greife ich niemanden an. Das stellt sofort eine Klarheit her – und öffnet Raum fürs Lernen. Es entsteht echter Kontakt. Und in dem Moment beginnt das autonome Nervensystem sich zu regulieren. Dann wird Veränderung möglich. Für mich ist das ein echter Türöffner.
Wie dieselbe Situation ganz unterschiedlich erlebt werden kann
Petra: Was ich gern noch mit dir machen würde: Lass uns doch mal in konkrete Alltagssituationen eintauchen. Eine Situation beschreiben – und dann schauen: Wie erlebe ich sie, wenn ich im sympathischen Zustand bin, also in Erregung, im Kampf- oder Fluchtmodus? Wie fühlt sie sich ventral an? Und wie sieht es aus, wenn ich abgeschaltet bin, also in einer dorsalen Verortung? Hättest du Lust?
Stefan: Ja, kann ich machen. Mir fällt direkt eine Situation ein. Wir nehmen mal: die lange Kassenschlange. Ich habe es eilig, stehe fast ganz hinten – und es geht einfach nicht weiter. Vorne steht eine ältere Dame, die ihr Geld sortiert. Wenn ich jetzt ventral verortet bin, nehme ich das wahr. Ich sehe vielleicht, wie die Kassiererin lächelt. Und ich denke vielleicht: „Ach, wie schön, dass die Dame noch selbstständig einkaufen gehen kann.“ Da entsteht Milde in mir – kein Druck, dass es schneller gehen muss. Ich bin mir der Situation bewusst.
Wenn ich dagegen aus dem ventralen Zustand rausrutsche und viel sympathische Energie im System ist – zum Beispiel, weil ich sehr unter Zeitdruck stehe oder mein Chef auf mich wartet –, dann denke ich vielleicht: „Muss das jetzt so lange dauern?“ oder „Warum hilft da keiner beim Geldzählen?“ Vielleicht auch: „Schon wieder diese Kassiererin – immer so langsam.“
Und wenn ich im dorsalen Zustand wäre, in der Untererregung, dann würde ich vielleicht denken: „Typisch. Immer ich. Immer stehe ich in der langsamsten Schlange.“ Ein Gefühl von Resignation macht sich breit. „Ist ja sowieso egal.“ Da ist wenig Kraft, wenig Hoffnung.
Innere Landkarten: Vorbereitung auf herausfordernde Momente
Petra: Das finde ich spannend – weil ich merke, dass ich in bestimmten Situationen, in denen ich nicht ventral verortet bin oder mein Stresslevel hoch ist, ganz automatisch reagiere. Und wenn ich mir das vorher bewusst mache – zum Beispiel vor einem schwierigen Gespräch – und die Szenarien mal innerlich durchspiele, ist das oft ein richtiges Aha-Erlebnis.
Wenn ich ventral bin, dann kann ich den anderen sehen. Ich habe Verständnis – für mich selbst und für den anderen. Dann entstehen Lösungen. Aber wenn ich im Kampfmodus bin, dann gibt es sofort Gegenwehr. Widerstand erzeugt wieder Widerstand.
Stefan: Genau. Und da kann auch keine Erkenntnis entstehen – weil der präfrontale Cortex in so einem Zustand gar nicht aktiv ist. Wir sind dann rein übers Stammhirn gesteuert. Es laufen nur alte Muster ab.
Bottom-up trifft Top-down – echte Veränderung braucht beides
Petra: Es ist faszinierend, wie stark unser autonomes Nervensystem unsere Wahrnehmung einfärbt – also wie die körperliche Verfassung unser Denken beeinflusst. Deshalb finde ich es so wichtig, den Körper in die therapeutische Arbeit mit einzubeziehen. Das sogenannte Bottom-up-Prinzip – über den Körper in die Regulation kommen. Und gleichzeitig natürlich auch Top-down: Erkenntnisse, die wir im Geist gewinnen, können wieder zurück in den Körper wirken. Erst durch dieses Zusammenspiel ist echte Veränderung und Integration möglich.
Stefan: Ich glaube auch, dass wir nur über unser ganzes Wesen integrieren können. Der Körper muss mit dabei sein. Für mich ist der Körper der Resonanzraum unserer Gefühle. Und wenn wir den außen vor lassen, fehlt einfach etwas Entscheidendes.
Nervensystem-Wissen in die Welt bringen – ein gesellschaftlicher Schatz
(An dieser Stelle gab es eine Mikrofon – Unterberchung)
Petra: Mein Appell ist wirklich: Wie wäre es, wenn dieses wertvolle Wissen über die Polyvagaltheorie, über unser Nervensystem und wie wir es regulieren können, in unsere Gesellschaft einziehen würde? In Schulen, in der Therapie, in Kliniken, in der Politik – überall. Ich glaube, es würde ganz viel Leid auflösen.
Stefan: Ich habe gerade gestern Abend einen Bericht gesehen über Rettungssanitäter – eine Gruppe im letzten Ausbildungsjahr. Und alle haben schon im Vorfeld gesagt: Wir können diesen Beruf nicht bis zur Rente machen. Die haben ein bisschen aus ihrem Alltag erzählt und wie gestresst sie sind. Ich habe bestimmt zehnmal während des Zuhörens gedacht: Was würde es diesen Menschen für eine Unterstützung bieten, wenn sie polyvagal informiert wären. Wenn sie in gewissen Situationen anders reagieren könnten – mit einem erweiterten Gespür für sich selbst.
Gerade in Notfallsituationen, wo natürlich viel Adrenalin ausgeschüttet wird – was ja auch notwendig ist –, wäre es so wertvoll, das auf einem Level halten zu können, wo Handlungsfähigkeit noch da ist.
Petra: Und auch die Verletzten könnten so besser beruhigt und reguliert werden. Das würde so viel ausmachen – auch für den Heilungsverlauf.
Stefan: Wir brauchen polyvagal informierte Personal wirklich überall: in Kindergärten, in Schulen, in Krankenhäusern, in Pflegeheimen.
Sichere Verbindung durch Präsenz – was unsere Spiegelneurone leisten
Petra: Ja, absolut. Und mir ist gerade noch ein Gedanke gekommen, der mich am Wochenende sehr bewegt hat. Es geht um den Umgang miteinander – und wie du es am Anfang gesagt hast: Wenn ich selbst reguliert bin, dann sende ich über die Spiegelneurone Signale der Sicherheit aus. Dann kann sich das Gegenüber öffnen – und echter Kontakt entsteht. Wenn das nicht möglich ist – wenn jemand im Kampfmodus ist – dann erzeugt Widerstand sofort Gegenwiderstand.
Wie Flüssigkeiten fühlen – Rheologie als Bild für Beziehung, Körperarbeit und Berührungsqualität
Petra: Und dasselbe passiert in der Körperarbeit, in der Qualität von Berührung. Ich habe da etwas kennengelernt, das mich total fasziniert hat: die Rheologie. Das beschreibt das Verhalten von nicht-newtonschen Flüssigkeiten.
Bei Wasser ist es einfach: Schüttelst du es, bleibt es flüssig – egal, wie schnell du es bewegst. Aber bei einer Mischung aus zwei Tassen Maisstärke und einer Tasse Wasser ist das anders: Wenn ich mit dem Löffel fest draufhaue, ist es bretthart. Wenn ich dagegen ganz sanft mit dem Finger hineingehe, werde ich eingesogen – wie in einen Priel.
Und so ist es bei Berührung auch. Wir Menschen sind nicht „newtonisch“. Wenn jemand hart auf mich zukommt, spannen sich reflektorisch alle Muskeln an. Kommt jemand sanft, entsteht Öffnung. Vertrauen.
Es gibt aber auch Flüssigkeiten wie Ketchup – die sind fest, bis eine Krafteinwirkung kommt. Erst dann werden sie flüssig. Ich fand das so faszinierend – weil es so sinnbildlich zeigt, wie Kontakt entsteht. Wann sich etwas öffnet, und wann nicht. Das ist verkörpertes Wissen – und das liebe ich sehr.
Stefan: Das berührt mich gerade wirklich.
Petra: Ja, wie schön. Dann können wir so langsam in den Landeanflug kommen.
Stefan: Gerne.
Was bleibt – und was wirklich trägt
Petra: Gibt es für dich noch etwas, was du mitgeben möchtest? Was für dich die Essenz aus unserem Gespräch ist?
Stefan: Ja – die Essenz ist für mich: Es bringt unglaublich viel Heilsames und Hilfreiches mit sich, wenn wir in uns die Möglichkeit entwickeln, unseren neuronalen Zustand immer wieder zu beeinflussen – also gezielt in einen ventralen Zustand zu kommen. Wenn der ventrale Vagus aktiviert ist, sind auch alle wichtigen Gehirnfunktionen zugänglich – wir sind handlungsfähig, verbunden und in Beziehung. Nach meinem Empfinden ist der ventrale Vagus der Schlüssel zum Frieden.
Petra: Und er ist für mich auch die Brücke zur Spiritualität. Denn wenn ich im ventralen Zustand bin, dann fühle ich mich verbunden – mit dem Leben, mit dem Universum. Da entsteht Offenheit für tiefe, berührende Erfahrungen – für das, was das Leben wirklich ausmacht.
Eine Einladung ans Leben – Selbstregulation als Weg in die Verbindung
Petra: Wir haben in dieser Folge einen weiten Bogen gespannt – von der Polyvagaltheorie über Selbstregulation, Beziehungsmuster und Co-Regulation bis hin zur Berührung als Türöffner. Vielleicht hast du für dich Impulse mitgenommen, die dich unterstützen, achtsamer mit deinem eigenen Nervensystem umzugehen – oder dem von anderen. Denn je besser wir verstehen, was in uns geschieht, desto leichter fällt es, in Kontakt zu bleiben: mit uns selbst, mit anderen, mit dem Leben. Danke, dass du zugehört hast. Ich hoffe, diese Folge hat dich inspiriert, berührt – und vielleicht auch ein wenig reguliert. Wir hören uns bald wieder – hier bei Vom Leben berührt.
Ganz lieben Dank, lieber Stefan.
Stefan: Gerne, Petra. Immer wieder.
Petra: Bis bald.
Stefan: Bis bald.
Petra & Stefan: Tschüss!
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Stefan Weber – Coach für NI (Neurosystemische Integration) nach Verena König – traumasensibler Achtsamkeitsentwicklungshelfer- ICH Zentrum, Usingen/Hessen
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Ressourcen
- Podcast #28: Im Einklang mit dem Nervensystem: Wege zu mehr Achtsamkeit Im Gespräch mit Stefan Weber 👉Transkript
- Podcast #36: Ehrliches Mitteilen – Der Schlüssel zu echter Verbindung – Im Gespräch mit Boris Urlbauer 👉Transkript
- Blogartikel: Einblick in die Polyvagal-Theorie – Raus aus dem Stress, rein in die Verbundenheit
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- Video: Der Polyvagal-Kreis von Mathias Thimm. Dieses Video hat mir unter anderem gezeigt, dass die Übergänge in einem optimalen Dynamikbereich fließend-fein und sehr differenziert aufeinander abgestimmt sind und uns in all unserem Tun und Sein unterstützt.
- NI – Neurosystemische Integration und Traumasensibles Coaching: Podcast und YouTube-Kanal von Verena König